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Peter WittstadtPeter Wittstadt

 

Laudatio am 18.3.2017

Nach der langen Geschichte des Schneewittchens in der kleinen Stadt Lohr am Main könnte man meiner Ansicht nach bei der Beschäftigung mit den Arbeiten von Peter Wittstadt auf die Idee kommen, die öffentliche Meinung zu Kunstwerken zu befragen. Der Konjunktiv in dieser Eingangsfrage zeigt aber gleich die Zweifel an solch einem Vorgehen auf. Die Gegenfrage dazu wäre: Soll und kann man sich heute überhaupt noch mit landläufigen Meinungen über bildende Kunst beschäftigen? Und endet das nicht nahezu zwangsläufig in einer Abkanzelung des ungebildeten Kunstbetrachters? Quasi ein Rachefeldzug gegen das Unverständnis für moderne Kunst in weiten Kreisen unserer Bevölkerung. Oberlehrerhaft könnte man auch eine Art Hochschulkurs in Sachen Kunst für Anfänger anbieten. Oder wir alle, die wir hier versammelt sind, verbleiben unter uns in einem elitären Zirkel von Kunstfreunden und Kennern. Dann müssen wir nicht weiter fragen, was ein wertvolles Kunstwerk für uns auszeichnet, wir wissen es doch, in einem stillschweigenden Verstehen.

Genau dieses Verstehen unter Fachkräften, vor allem aus dem Bereich der Kunstkritik und Kunstrezension, macht aus vielen Meinungen mit gleichem Verständnis eine herrschende Meinung. Kunst als eine soziale Übereinkunft. Ein im Wesen existentialistisches Verständnis im Sinne Sartres, der grundsätzlich davon ausgeht, dass alles Dasein ein Ergebnis sozialer Übereinkünfte darstellt und damit einem stetigen und raschen Wechsel unterliegen kann. Was heute im „melting pot“ der Kunstmeinungen zu höchsten Ehren kommt, wird an heiligen Orten aufbewahrt und von neuen Ideen entsprechender Provenienz abgelöst. Was für viele Betrachter dazu führt, sich aus diesem hektischen Treiben zurück zu ziehen und sich auf die Position zu verstehen: Kunst muss mir gefallen, dann ist sie gut und eigentlich müsste ergänzt werden: dann ist sie für mich gut!

Die Frage ist, ob uns das reicht, denn hier wird ein Dilemma der ganz besonderen Art ausgelöst, in dem die Auseinandersetzung und das Gespräch über Kunst im Kern verunmöglicht wird. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Wir aber wollen uns über Kunst auseinander setzen.

Vielleicht kann ich Ihnen ein Angebot machen? Schönheit und Gefallen sind ein besonderes Anliegen in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Peter Wittstadt. Schließlich ist diese Schneewittchen-Geschichte einfach da und nicht zu übersehen. Und gerade der Begriff Schönheit verbindet sich mit diesem Märchen von dem schönen Schneewittchen, das bekanntlich noch tausendmal schöner ist. Und es steht in Lohr diese Arbeit, die in keiner Weise einem überkommenen Begriff von Schönheit entspricht. Der Bürgermeister von Lohr, der selbst ein sehr ansehnlicher, ja schöner Mann ist, kümmert sich gar nicht um die Kritik aus der Bevölkerung, sondern lehnt sich genüsslich zurück und sagt: wir haben doch alles richtig gemacht. Der Skandal hat unserem Städtchen mehr Aufmerksamkeit gebracht als jede noch so schöne Arbeit, um die sich niemand geschert hätte. Der Wert des Hässlichen liegt also in seiner provokativen Kraft?

Aber Peter Wittstadt will überhaupt nicht provozieren. Er schaffte eine Figur nach seiner Vorstellung und seinem Kunstkonzept mit dem festen Anliegen, seiner eigenen Ideenwelt gerecht zu werden, so gerecht wie ein Künstler es vor sich selbst bei höchster Ehrlichkeit schaffen kann. Es ist ein heftiger Kampf um Wahrheit, weniger um Wirklichkeit, den Künstler mit sich selbst und ihrem selbst gestellten Thema ausfechten. Wilhelm Worringer, der vielleicht einzige Kunsthistoriker des frühen 20ten Jahrhunderts, der von den Ereignissen in der bildenden Kunst nicht völlig überfordert war, betont eben jene kampfmäßige Auseinandersetzung der Künstler mit der Wirklichkeit, genauer mit der Codierung von Eindrücken aus einer wie auch immer wahrgenommenen Welt, die eben jener Welt so wahrheitsgemäß wie möglich sich nähern will. Und zu unserer Überraschung betont Worringer, dass es den Künstlern nicht um die Wirklichkeit geht, wie sie sichtbar ist, sondern um die Gesetzmäßigkeiten einer den Dingen innewohnenden Schönheit, wie sie sich für unseren Geist ergeben kann.

Aus eben jener Zeit stammt auch die Erkenntnis, dass die Wirklichkeit nicht nur außerhalb von uns zu finden ist, sondern auch unter unseren Bewusstseinsschichten sich ein Archiv an Erfahrungen und Empfindungen gesammelt hat und zwar in einer eigenen Verschlüsselung oder wie es Jaques Lacan nennt, neben Levi-Strauß der bekannteste französische Strukturalist, in einer diesem Bewusstsein eigenen Struktur. Nicht das Chaos prägt das Tiefenbewusstsein, sondern eine jeweils zu zuordnende oder individuelle Ordnung. Auch die Wege der eingelagerten Erinnerungen und Empfindungen an die Oberfläche des bewussten Wahrnehmens sind nicht zufällig, sondern unterliegen einer wiederum jeweiligen oder individuellen Struktur. Die persönliche Handschrift eines Künstlers, auch wenn er gegenstandslos arbeitet, erklärt sich aus dieser Tatsache. Willkürlichkeit scheitert an den Grundgegebenheiten der Bewusstwerdung. Kunst ist also niemals willkürlich, sie kann allerdings oberflächlich sein, wenn sie sich streng an die Normen der Bilderflut einer bestimmten historischen Situation orientiert, nahezu ohne persönlichen Impetus oder mit pädagogischem Begriff bezeichnet: fremdbestimmt ist.

Wie kann man sich eine Möglichkeit der Erinnerungsabläufe vorstellen? Nehmen wir an, dass die Erinnerungen in einer Art Film gespeichert sind, der sich abspulen lässt und in einem besonderen Moment deutlich zeigt, was aufgespielt ist. Und zwar dort, wo sich zwei Filme kreuzen und ein gleiches oder ähnliches Bild haben. Die Verstärkung wirkt als Beschleuniger der Erinnerung und entsteht aus Gesetzen der Ähnlichkeit. Zunehmend wird so eine bestimmte Konstellation von Erinnerungen aus unterschiedlichen Speichern für das Bewusstsein greifbar, bei gegebener Verdichtung. Die Konzentration am Ablauf der Erinnerungsaktivierung wird von Ähnlichkeiten gefüttert, die – und das ist besonders festzuhalten – formal sind und nicht inhaltlich. Es werden, wenn dies so vorstellbar ist, Bilder, Formen, Zeichen kreiert und keine Geschichten. Erst im Fortlauf werden aus den Bildern, Formen, Zeichen schließlich durch bewusste Reihung derselben Geschichten mit Inhalten, als fortgeschrittene Stufe der Bewusstwerdung und als jene Ebene, in der wir miteinander kommunizieren. Die Grundlage jenes Bewusstseins, in welchem wir uns alltäglich bewegen, ist aber reine Form, reines Zeichen, das erst in der Kombination mit anderen Zeichen mit Sinn geladen wird. Die unmittelbare Wirklichkeit ist uns da schon lange entglitten und in einem System von Symbolen eingebettet.

Das alles geschieht als gesetzmäßiger Vorgang und ist niemals chaotisch oder willkürlich. Bei gleicher Person ließe er sich auch wiederholen. Dass es zu Wiederholungen kommt, kann aus der Handschrift eines Künstlers interpretiert werden. Selbst bei gegenstandloser Bildfindung ist der Duktus des Künstlers wesentlich und so ist sein Werk erkennbar und zuordenbar. Wie tief diese Art von Gesetzmäßigkeit in unserem Dasein verwurzelt ist zeigen uns Arbeiten von herman de vries, dessen Blattreihungen z.B. die Gesetzesabhängigkeit der Form selbst bei absoluter Individualität aufzeigt. Diese Grundmuster des Lebens bestimmen auch die Denkvorgänge und Handlungsabläufe des Menschen! Das Schneewittchen von Peter Wittstadt unterliegt einer solchen Gesetzesvorgabe, allerdings nicht aus der Oberflächenebene unseres rationalen oder logischen Bewusstseins.

Wenn ich relativ lange solche Vorgänge hier erwähne, dann deshalb, weil die Suche nach ursprünglichen Formen im Tiefengedächtnis immer auch auf die Ebene der kindlichen Erfahrungen zurückgreift. Wenn dies, wie bei Peter Wittstadt, meditativ verfolgt wird, tauchen Formen auf, die nicht in die Schemata der Formenübereinkünfte der etablierten Formenwelten passen und völlig andere Formideen transportieren. Ein kindliches Schneewittchen ist ein Kopffüßler aus vielen abgehackten Linien mit unlogischen Anschlüssen aneinander gespickt, fast grob wirkend, das so aus dem Gedächtnis auftaucht. Keine glatte und geschliffene Form oder Oberfläche, kein Püppchen und kein Modemodell, sondern ein Bild am Anfang allen Werdens, dem der Lehm aus dem Ursprung der Schöpfungsgeschichte noch anhängt, ohne weiter überarbeitet und geglättet werden zu wollen.

Es ist der Strukturalist Jacque Lacan, der uns solche Vorstellungen in den Mund legt und der uns begreiflich macht, dass die Wirklichkeit für uns nur mittelbar greifbar ist. Zwischen die Welt und unserem Wahrnehmen und weiter unserem Begreifen und Verstehen schiebt sich immer das Symbol, das Zeichen, die Codierung. Und es sind die Existentialisten, die betonen, dass die Kombination aus Grundelementen solcher Symbole unsere Persönlichkeit ausbildet, mehr oder weniger weit entwickelt oder getrieben. Wenn also ein Künstler sich auf die Suche nach den Ursprüngen seiner Formenwelt begibt, dann ist dies eine durchaus beschwerliche Reise, die den Künstler zwingt, ehrlich ohne Rücksicht auf Grenzen der eigenen Scham zu sein. Doris Dörrie hat in einem Interview gesagt, dass ein Künstler, ob er schreibt oder bildnerisch arbeitet, bereit sein muss nackt zu sein. Ein Wort, das symbolisch für grenzenlose Ehrlichkeit steht.

Warum will ein erwachsener und hochgebildeter Künstler kindliche Formen und Figuren fertigen? Vielleicht weil er wie Peter Pan es ablehnt erwachsen zu werden, weil er dann die ursprüngliche Kraft seiner Fantasie und seiner Träume aufgeben muss und obendrein seine Zauberkraft verliert. Solche Opfer werden normalerweise ganz ohne nachzudenken gebracht, aber eben nicht immer. Und wenn Sie sich die Arbeiten von Peter Wittstadt ausführlich und lange betrachten, könnte es sein, dass jener Urzauber, der allen Anfängen inne wohnt, ihnen zuzwinkert. Dann dürfen Sie heureka rufen!

Betrachten wir als Nächstes das gemalte Bild von Peter Wittstadt. Der kleine Text auf der Einladung gibt einen wichtigen Hinweis auf die Abläufe bei der Gestaltung der Arbeiten. Von der Mitte nach außen und zurück, von allen Seiten aus tritt er an den Bildträger und löst die übliche Leseordnung von rechts nach links komplett auf. Die Normalität eines geordneten Raumes für die symbolischen Zeichen der Schrift wird überwunden und eine neue Ordnung gesucht, die über die zentrierte Wahrnehmungsperspektive des Individuums hinausgeht und allgemeinere Bedeutungen sucht. Ein Konzept der Bildgestaltung, das mit unseren üblichen Sehgewohnheiten spielt und diese zur Reflexion herausfordert.

Die Suche nach ursprünglichen Symbolen in den Tiefen der eigenen Psyche, gepaart mit konzeptionellen Ansätzen in Bezug auf eine Hinterfragung von Sehgewohnheiten, eingebettet in eine ganz persönliche Handschrift, vor allem der Lineatur des Künstlers summieren sich zu einem höchst ehrgeizigen künstlerischen Ansatz, wie er nur heute in unserer Zeit denkbar geworden ist und dessen so gänzlich persönliche Art wie immer und zu allen Zeiten auf Unverständnis stoßen kann.

Ich habe versucht die Sinnhaftigkeit des künstlerischen Weges von Peter Wittstadt aus meiner Sicht und konfrontiert mit psychologischen wie philosophischen Gedanken unserer Zeit darzustellen. Dass Fragen offen bleiben bei einem so spektakulären Vorgehen, darf nicht verwundern. Wenn deutlich geworden ist, wie durchdacht oder wie am Puls der Zeit erfühlt dieser Ansatz ist und dass nichts zufällig oder provokativ daran ist, dann hat sich mein Aufwand für diese Einführung vielleicht gelohnt. Sicher ist, dass der Reiz der Arbeiten, sowohl der Bilder wie der Skulpturen, sich am besten und am stärksten eröffnet durch eine unvoreingenommene und möglichst unmittelbare Betrachtung. In diesem Sinne fordere ich Sie auf, sich nicht nur in Gesprächen zu verlieren, sondern vor allem im Anschauen der Werke von Peter Wittstadt.

Egon A. Stumpf
Laudatio am 18.3.2017 - Ausstellung in Eschenau, Galerie im Saal


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